Marie-Anne und Luc Bigler waren kürzlich für 10 Tage in Armenien. Dort waren sie mit dem Konflikt um Berg-Karabach konfrontiert, der zwei Tage nach ihrer Rückkehr im Einmarsch Aserbaidschans in die armenische Enklave eskalierte. Deshalb haben Marie-Anne und Luc, lange Zeit Teil der Mennonitengemeinde Courgenay, zusammen mit anderen beim Bundesrat interveniert. Die Schweiz soll helfen, einen Krieg zu verhindern.
Marie-Anne und Luc, ihr wart kürzlich für 10 Tage mit «Campus für Christus» in Armenien. Wie ist es zu dieser Reise gekommen?
Marie-Anne: Ich habe viele Jahre für Campus für Christus Schweiz gearbeitet. Auch in Armenien gibt es einen Ableger von Campus für Christus und ich hatte schon immer auf dem Herzen, das Land zu besuchen. Dieses Jahr organisierte Campus für Christus Schweiz eine Reise dorthin, und Luc und ich haben rasch gespürt, dass wir die Gelegenheiten nutzen und teilnehmen sollten.
Was war das Ziel der Reise?
Marie-Anne: Für die Organisatorin der Reise war ein ganz wichtiges Ziel, die Menschen von Campus Armenien kennenzulernen und sie in ihrer Arbeit zu ermutigen. Das Team dort ist klein und sie haben sich dann auch wirklich sehr über unseren Besuch gefreut und fühlten sich geehrt. Das Team hat auch das gesamte Programm vor Ort organisiert. Es war sehr reichhaltig.
Luc: Es ging auch darum das Land und die Leute kennenzulernen und für sie zu beten. Ich muss gestehen, dass ich vor der Reise sehr wenig über Armenien wusste. Aus den Begegnungen mit den Menschen dort haben wir erfahren, dass sie sich von der Welt vergessen fühlen. Durch unseren Besuch konnten wir ihnen zeigen, dass dem nicht so ist. Während der ganzen Dauer wurde uns immer wieder gesagt, wie wertvoll es ist, dass wir überhaupt gekommen seien. Alle haben sich unglaublich eingesetzt, um uns ihr Land mit seinen vielen Facetten zu zeigen und auch, wer sie sind. Das war ihnen ein grosses Anliegen.
Wie habt ihr das Land erlebt?
Marie-Anne: Wir waren vor allem in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, und in eher touristischen Orten. Daran kann man ein Land ja nur bedingt messen. In Eriwan war es nicht viel anders als bei uns in einer modernen Grossstadt, ausser dass es Slums gibt, auch sehr grosse. In den ländlichen Gegenden merkt man dann, dass die Armutsquote wesentlich höher ist als bei uns. Dieser Armut sind wir konkret begegnet beim Verteilen von Essenspaketen bei ärmsten Familien in den Slums. Die Menschen habe ich als sanftmütig, hilfsbereit und zuvorkommend erlebt.
Luc: Landschaftlich ist das Land sehr schön. Es ist grün und sehr gebirgig, aber fruchtbar. Auch touristisch gesehen, ist es aus meiner Sicht attraktiv.
In Armenien wahrt ihr hautnah mit dem Konflikt um Berg-Karabach konfrontiert. Was habt ihr davon mitbekommen? Was wurde euch darüber berichtet?
Marie-Anne: Berg-Karabach ist eine armenische Exklave in Aserbaidschan. Sie ist über einen schmalen Streifen Land, dem Latschin-Korridor, mit dem Hauptland verbunden. Als wir in Armenien waren, war dieser Korridor blockiert und dies seit Dezember 2022 und Berg-Karabach war hermetisch abgeriegelt. Weder Lebensmittel noch Medikamente konnten in das Gebiet gebracht werden. Teilweise wurde auch der Strom abgestellt und die Internetverbindung gekappt.
Luc: Man kann sagen, dass die Menschen in Berg-Karabach regelrecht ausgehungert wurden. Eine Frau, deren Eltern in Berg-Karabach lebten, berichtete uns, dass die Lebensmittelpreise in die Höhe schossen und alles knapp wurde. Für die Menschen in den Städten, die sich nicht selbst versorgen konnten, war das besonders schlimm.
Marie-Anne: Kurz nach unserer Rückkehr in die Schweiz, wurden unsere Gebete zwar erhört und der Korridor öffnete sich wieder. Aber noch bevor die Menschen mit Hilfsgütern versorgt werden konnten, griff Aserbaidschan Berg-Karabach an und vertrieb die Armenier aus der Enklave. Die Leute verliessen die Region fluchtartig, oft nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen. Das spricht Bände.
Inzwischen sind Medienberichten zufolge fast alle Menschen aus Berg-Karabach nach Armenien geflüchtet. Was wisst ihr über die Lage vor Ort?
Marie-Anne: Armenien hat insgesamt 2,8 Millionen Einwohner. Aus Berg-Karabach sind mittlerweile über 100’000 Menschen in das Land geflüchtet. Wir stehen regelmässig im Kontakt mit dem Team von Campus Armenien und unser Eindruck ist, dass die Menschen völlig überfordert sind. Die Ohnmacht ist gross, weil die Hilfe, die sie anbieten können, kaum genügt.
Luc: Erschwerend kommt hinzu, dass seit dem Beginn des Ukraine-Krieges 250’000 Russinnen und Russen, die Beziehungen und Geld haben, nach Eriwan geflüchtet sind. Sie konnten sich dem Krieg entziehen und kauften Häuser und Wohnungen. Für die Einheimischen ist das eine Katastrophe, weil sich dadurch die Immobilienpreise verdoppelt haben und der Wohnraum knapp wurde, der jetzt dringend gebraucht wird.
Marie-Anne: Campus Armenien hat entschieden, in einem ersten Schritt 25 Familien zu unterstützen. Mehr geht nicht. Das ist gut, aber für das Team fühlt es sich nur wie ein Tropfen auf einen heissen Stein an. Das lastet schwer auf ihnen. Bei unserem letzten Austausch war die Stimmung sehr bedrückt.
Was hat der Verlust der Enklave mit den Menschen aus Berg-Karabach und in Armenien gemacht?
Marie-Anne: Für die Menschen ist das sehr schlimm. Sie mussten ihre Heimat verlassen, einen Teil ihres Herzens, und müssen nun im Hauptland bei Null anfangen. Sie erleben physische und emotionale Belastungen, die wir uns nicht vorstellen können. Das muss sehr schlimm sein. Hinzu kommt die Angst vor einem Krieg, die durch die Geschehnisse in Berg-Karabach noch verstärkt wurde.
Luc: Die Menschen in Armenien befürchten, dass Aserbaidschan bald in Armenien einmarschieren könnte. Ilham Alijew, der Machthaber Aserbaidschans, hat tatsächlich schon verlauten lassen, dass Armenien aus seiner Sicht ein Teil Aserbaidschans ist. Er hat den Anspruch das Land einzunehmen und sicher bald einen Korridor zu etablieren, der Aserbaidschan über armenisches Territorium hinweg mit der Exklave Nachitschewan verbinden soll.
Marie-Anne: Dieser Korridor würde den Süden Armeniens abtrennen und der Schritt zur Einnahme des Gebiets wäre wohl tatsächlich nicht mehr weit.
Luc: Dann steckt den Menschen in Armenien auch der Genozid von 1915 noch in den Knochen. Diese Erinnerungen kommen jetzt hoch und belasten die Menschen zusätzlich: Wir sind wieder die Opfer. Zudem ist wichtig, den geopolitischen Kontext zu berücksichtigen: Armenien ist ein Spielball der umliegenden Mächte. Aserbaidschan und auch die Türkei wollen beide expandieren. Mit dem Erlös aus Erdöl und Gas hat Aserbaidschan seine Armee modern aufgerüstet. Russland wäre eigentlich Armeniens Schutzmacht. Aber der armenische Präsident hat sich von Russland distanziert und wollte sich dem Westen zuwenden. Doch der Westen will sich nicht einmischen. Das Land gerät immer mehr zwischen Hammer und Amboss.
Marie-Anne: Dabei spielt auch die Religion eine Rolle: Armenien ist christlich und damit zwischen zwei muslimischen Ländern auch damit exponiert.
Wie können wir helfen?
Marie-Anne: Auf jeden Fall beten. Darauf sind die Menschen in Armenien sehr angewiesen und sie wünschen sich das auch. Im Moment steht bei uns der Nahostkonflikt im Fokus. Darüber dürfen wir Armenien und dessen Situation nicht vergessen. Das darf bei uns nicht untergehen. Und natürlich braucht das Land Geld, um die vielen Geflüchteten zu versorgen. Armenien ist kein reiches Land. Campus Schweiz sammelt nun für Armenien und leitet das Geld an Campus Armenien weiter. So kommt es sicher zu den Menschen, die es brauchen.
Was macht Campus Armenien mit dem Geld?
Luc: Sie arbeiten mit dem Global Aid Network (Gain) zusammen, einer deutschen Organisation, die auf Katastrophenhilfe spezialisiert ist. Gain bringt was nötig ist ins Land und Campus organisiert die Verteilung. Es braucht Matratzen, Decken, Kleidung, Lebensmittel oder auch Hygieneartikel und vieles mehr.
Ihr habt beim Bund auch eine Petition eingereicht, um auf die Situation in Armenien – auch die geopolitische – aufmerksam zu machen. Wie war die Reaktion darauf?
Luc: Wir warten noch auf eine Antwort. Aber kurz nach unserer Rückkehr hat unsere Gruppe auch einen Brief direkt an Bundesrat Cassis geschrieben, der von armenischen Universitätsprofessoren mitunterzeichnet wurde. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Brief einen Einfluss hatte auf den Entscheid, 1,5 Millionen Franken an Hilfsgelder für Armenien bereitzustellen.
Was habt ihr mit der Petition erreicht?
Luc: Sie wurde von über 800 Personen unterschrieben und es gibt sicher viele, die sie zwar nicht unterschrieben haben, aber dank dem Aufruf auf das Thema aufmerksam wurden. So hat die Petition hoffentlich zu einer Sensibilisierung beigetragen. Das ist nicht überwältigend, aber auch nicht nichts. Wichtig ist: Die drei ersten Forderungen in der Petition bezogen sich auf die Situation in Berg-Karabach und sind mittlerweile überholt. Deshalb haben wir eine vierte Forderung ergänzt: Wir fordern den Bund auf, friedensstiftende Massnahmen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan zu unterstützen, insbesondere auch Sanktionen anzukündigen und zu ergreifen, sollte es zu einem Krieg kommen. Ich weiss nicht, ob das etwas bewirkt, aber das Ziel ist einfach Druck zu machen, in diese Richtung.
Marie-Anne und Luc Bigler reisten kürzlich mit Campus für Christus nach Armenien. Seit ihrer Rückkehr setzen sie sich dafür ein, dass kein Krieg ausbricht zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die beiden waren lange Zeit in der Mennonitengemeinde Courgenay aktiv. Heute haben sie ihren Lebensmittelpunkt in Lyss und sind in der Connect-Gemeinschaft engagiert.
Habt ihr noch weitere Aktionen geplant?
Marie-Anne: Im Moment nicht. Wir bleiben aber im Austausch mit Campus Armenien und treffen uns mit dem Team via Zoom regelmässig zum Gebet. Für Gebete sind sie wirklich sehr dankbar. Das sagen sie uns immer wieder: Zu wissen, dass es Leute ausserhalb Armeniens gibt, die für sie einstehen, denen ihr Land nicht egal ist, ist eine grosse Ermutigung für sie.
Was wünscht ihr euch für Armenien?
Luc: Unser grösster Wunsch: Keinen Krieg! Wir wünschen uns internationale Beachtung und Unterstützung und dass die Schweiz eine positive Rolle spielt. Dann ist es auch so, dass es unterdessen Spannungen gibt in Armenien: Die Opposition wirft der Regierung vor, dass die Armee nicht eingegriffen hat, um die Vertreibung der Menschen aus Berg-Karabach zu verhindern. Diese Spannungen braucht es jetzt nicht auch noch. Wir wünschen uns, dass diese abgebaut werden können und keine internen Konflikte entstehen.
Interview:
Simon Rindlisbacher