Über 3500 Menschen aus der ganzen Welt reisten nach Zürich, um am 29. Mai am Begegnungstag zum 500-Jahr-Jubiläum der Täuferbewegung dabei zu sein. Eindrücke von einem vielseitigen Tag, geprägt von Gemeinschaft und der Einladung zum Mut zur Liebe.
Schon in den frühen Morgenstunden des 29. Mai hallt ein heiteres Gemisch von Sprachen durch die Gassen der Zürcher Altstadt: Englisch, Deutsch, Spanisch, Swahili. Anlässlich des 500. Jahrestags der Täuferbewegung, die 1525 in Zürich ihren Anfang nahm, sind mehr als 3500 Personen aus allen Kontinenten in die Zwinglistadt gereist. Sie tragen Landesflaggen auf den Rucksäcken, grüne Aufkleber auf den Jacken. Ihre Blicke schweifen über die Strassen und scheinen zu sagen: «Und du, bist du auch Täufer?» Die Atmosphäre in Zürich, an all den historischen Stätten der Reformation, gleicht jener einer grossen Familienfeier. Sie ist prägend für die Gedenkfeier, die unter dem Motto «Der Mut zur Liebe» steht.
Gelebte Erinnerung
Am späten Vormittag erklingen die ersten Lieder auf dem Zwingliplatz. Die Stadt, in der Ulrich Zwingli vor fünf Jahrhunderten predigte, empfängt am 29. Mai eine bunte Schar von Besucher:innen. Etwas weiter, in der Predigerkirche, lassen Chöre aus Indonesien, den Vereinigten Staaten und Kenia die Gewölbe erbeben. Die Menschen stehen da, singen mit und applaudieren. In den Mauern, die einst Zeugen von Verurteilungen waren, hallt nun der Frieden wider. Viele Besucher:innen folgen dem «Historischen Stadtrundgang» durch die Gassen der Innenstadt auf den Spuren der ersten Täufer:innen. An mehreren Stationen – von Orten heimlicher Taufen bis zu Marktplätzen – wird von einem aufkeimenden und verfolgten Glauben erzählt. Für manche ist es eine persönliche Pilgerreise. «Ich bin hier auf den Spuren meiner Ururgrossmutter. Sie floh im 19. Jahrhundert aus der Schweiz nach Kanada. Heute hier zu sein, ist wie ein Kreis, der sich schliesst», sagt Evelyne, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus Kanada angereist ist.
Etwas weiter steht George Ochieng aus Nairobi. Er berichtet: «Der Täuferbewegung anzugehören, heisst für mich, Teil eines Leibes von Gläubigen zu sein, die Jesus nachfolgen. Hier an diesen historischen Orten zu sein, erinnert mich an die Kraft meines Engagements. Wir wandeln auf den Spuren von Männern und Frauen, die ihr Leben für ihre Überzeugungen gegeben haben.» Der Bischof, der mit dem Chor EFC aus einer kenianischen Mennonitengemeinde anwesend ist, fügt an: «Diesen täuferischen Glauben heutzutage in meinem Umfeld zu leben, bedeutet, den Lehren Jesu in einer Welt zu folgen, die dazu neigt, sich ihnen zu widersetzen. Es ist ein Aufruf, keine Kompromisse einzugehen.»
Stimmen zwischen den Fronten, Workshops, Ausstellungen und viele Begegnungen
In der Friedenskirche zieht eine Podiumsdiskussion mit dem Titel «Standing Between the Lines in a World on Fire» (zu Deutsch etwa: «Zwischen den Fronten stehen in einer Welt in Flammen») ein grosses Publikum an. Moderiert wird die Diskussion von der Journalistin Judith Wipfler. Die Podiumsteilnehmenden sind fünf Persönlichkeiten aus der Täuferbewegung, die sich in Kontexten von Krieg, Exil oder struktureller Gewalt engagieren.
Am Nachmittag verwandelt sich Zürich in ein kleines gemeinschaftliches Dorf. In verschiedenen Räumen der Innenstadt finden rund zwanzig Workshops zu so unterschiedlichen Themen wie Gewaltfreiheit, Betreuung von Vertriebenen, Tauftheologie oder Glaubensvermittlung statt. Überall gibt es Diskussionsrunden, Gesang und trinationale Gesprächsforen. Ausstellungen laden dazu ein, die Geschichte der Mennonitischen Weltkonferenz und jene der Täufer in Zürich zu entdecken – oder die täuferische Tradition kennenzulernen, Patchwork-Decken für Menschen in Not zu nähen.
Im Hirschengraben haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, Diskussionen zu vier täuferischen Filmen zu verfolgen: zu Unexpected Peace, einem Film von Jonathan Bornman, Ehab Assal und Michael Hostetler, der von der Suche nach Alternativen zur Gewalt in verschiedenen Kulturen und Zivilisationen erzählt; zur Videoserie Transmission von Max Wiedmer, welche zentrale Werte der Täuferbewegung greifbar macht; zum Dokumentarfilm Being Mennonite in America von Burton Buller über die Geschichte und Identitätssuche der Mennoniten in den Vereinigten Staaten; und schliesslich zu Kinder des Friedens, einer Schweizer Produktion über das pazifistische Erbe des mennonitischen Jura. Auf Plätzen, in Parks und Cafés wird ungezwungen mit Unbekannten Kaffee getrunken und gelernt, wie man «Frieden» in einer anderen Sprache sagt. Die Atmosphäre ist geschwisterlich, aufmerksam, manchmal andächtig.
An einer Strassenecke ist Michelle Goldschmidt, eine Teilnehmerin aus der Mennonitengemeinde Pfastatt, bereit, ein paar Fragen zu beantworten: «Ich stamme auf allen Seiten meiner Familie von Mennoniten ab – bis zurück ins 18. Jahrhundert.» Für sie ist das Mennonitsein zwar eine Identität, doch das Wesentliche bleibt der Glaube an Jesus Christus. «Dieser Glaube macht uns zu Brüdern und Schwestern in Christus.» Sie fügt hinzu, dass diese täuferische Identität auch Gewaltlosigkeit bedeutet: «Wir versuchen, tolerant zu sein, ohne dabei unsere Prinzipien aufzugeben. Wir stehen für Wahrheit und Gewaltlosigkeit. Wir versuchen, durch unser Verhalten Zeugnis abzulegen.»
Weiter entfernt wartet Joshua Delos Reyes, ein junger Täufer aus den Philippinen, mit einer Glace in der Hand auf die Mitglieder seiner Gruppe. Er berichtet: «Für mich bedeutet Mennonit zu sein, jemand zu sein, der den Frieden liebt und schätzt. Es geht darum, Frieden mit sich selbst, mit der Natur, mit anderen, mit meinen Feinden, mit der Kirche und mit allen Geschöpfen zu entwickeln.»
Ein Gottesdienst mit ökumenischer Beteiligung als Höhepunkt
Am Ende des Tages beginnt der grosse Abschlussgottesdienst im Grossmünster, der an drei weitere Orte live übertragen wird – um möglichst vielen Teilnehmenden die Möglichkeit zu geben, irgendwie dabei zu sein. Das Interesse übertrifft allerdings die Erwartungen der Organisatoren, sodass mehrere Hundert Besucher:innen weder im Grossmünster noch an den anderen Orten einen Platz finden. Die Teilnehmenden organisieren sich, so gut es geht: Sie scharen sich um Laptops und Smartphones, um die Feier doch noch live zu verfolgen; andere unterhalten sich und knüpfen Kontakte, während wiederum andere enttäuscht den Zug nach Hause nehmen.
Im Inneren der Kirche hallt noch der Klang der Glocken nach, als Hunderte von Stimmen Holy God, We Praise Thy Name anstimmen und damit den feierlichen Beginn einer historischen und vielseitigen Feier einläuten. Eine Feier mit ökumenischer Beteiligung, geprägt von Versöhnung, in der aber auch die radikalen Forderungen der ersten Täufer:innen Platz finden. Am Ende der Feier, als die Versammelten unter der Leitung des Chors das Lied Siyahamba anstimmen, sind die Gesichter bewegt. Eine deutsche Rentnerin vertraut ihrer Sitznachbarin an: «Ich habe geweint, als ich sah, wie reformierte Pastoren hier diejenigen willkommen hiessen, die einst in der Limmat ertränkt wurden. Heute haben wir gemeinsam gesungen. Das ist ein Wunder.»
Der Tag neigt sich dem Ende zu, die grünen Aufkleber ziehen von dannen. Aber ein Aufruf hallt noch nach – jener von César García, Generalsekretär der Mennonite World Conference, der die Feier mit folgenden Worten beschliesst: «Welchen Mut müssen wir in unserer zerrissenen Welt aufbringen? Der Mut zur Liebe ist vielleicht der radikalste.»
Text:
Maude Burkhalter