Viermal die Woche sitze ich im TGV Lyria von Zürich nach Paris. Leider muss ich viermal die Woche schon in Basel aussteigen, da :
- mein Ticket nur bis zur Grenze gültig ist.
- wegen der Pandemie Frankreich für mich, als in der Schweiz sesshafter Mensch, die Einreise verboten ist.
- jemand in Basel auf mich wartet.
- ich in der Region Basel lebe.
Und eigentlich erwarten alle, dass ich vernünftig bin und aussteige!
Alle, das heisst die SNCF, Präsident Macron, mein Mann und mein Zuhause.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass mein ganzes Leben von Erwartungen an mich geprägt ist.
Damit eine Gruppe Menschen überhaupt miteinander leben kann, zusammen funktioniert, sind Erwartungen an jedes ICH gesetzt. Erwartungen richten sich in die Zukunft. Hier nur ein paar kleine, selbstverständliche Beispiele: Es wird erwartet, dass ich bei Rot anhalte, dass ich pünktlich an der Arbeit erscheine, dass ich meinen Körper wasche und mich anziehe, dass ich nicht unanständig bin, dass ich mir du Hände wasche… einen Mundschutz trage. Würde ich diesen Aufforderungen nicht genügen, bekäme ich eine Zurechtweisung oder sogar schlimmer noch, eine Einweisung in eine spezielle Institution (Gefängnis, Psychiatrie).
Ohne den Erwartungen unserer Gesellschaft zu folgen, können wir nicht sozial zusammen leben. Auch ich setze bei meinem Gegenüber Erwartungen voraus.
Als Jesus im judaeischen Bergland zur Welt kam, setzten Maria und Josef in ihm auch schon Erwartungen in die Wiege. Je mehr er in die Gesellschaft eingeführt wurde, älter wurde, desto mehr kamen neue Ansprüche auf ihn zu. Die unterdrückten Menschen wollten einen Rabbi, einen Heiler, einen Befreier, einen barmherzigen Herrscher, einen einfühlsamen Freund… Die damaligen Herrscher wollten einen folgsamen, gesetzestreuen Bürger. Kein Wunder, dass er 40 Tage in die Wüste flüchtete. Alle diese Erwartungen an ihn! Aber auch dort hatte er keine Ruhe. Tatsächlich kam der Teufel mit seinen Bedingungen zu ihm. Nun, ich möchte nicht tauschen mit Jesus.
Wie hat Jesus dies alles bewältigen können? Er hat nicht alle zufrieden gestellt. Er hat Gottes Wille befolgt. Wenn ich mir sein Leben Revue passieren lasse, so hat er in manchen Momenten Widerstand geleistet, er hat widersprochen, keine Antwort gegeben, Unmögliches durchgesetzt! Bis er ans Kreuz geschlagen wurde, hat er nicht die Erwartungen der Menschen, sondern Gottes Erwartungen erfüllt. Zu der damaligen Zeit war er in mancher Sicht ein ungehorsamer Bürger.
Gehen wir wieder zurück in unsere Zeit.
Ich habe mich gefragt ob es Menschen gibt, die keiner Erwartung entsprechen, die alles über Bord werfen? Ja, es gibt sie: Psychisch Auffällige, Exzentrische, Randständige, schwerkranke Menschen. Jesus hat sich gerade zu diesen Personen gerufen gefühlt. Sie brauchten Gottes Botschaft der Akzeptanz, der Befreiung, der Liebe, der Vergebung und des Friedens.
Zum Schluss frage ich mich: Was habe ich für Erwartungen in die kommende Adventszeit, an mich selbst, an meinen Mitmenschen und auch an Gott? Bin ich auch bereit, sie zu überdenken, sie zu ändern und damit auch mich zu verändern? Bin ich bereit keine Bedingungen an die Zukunft zu stellen? Werde ich warten anstatt erwarten?
Ich wünsche euch, liebe Leser und Leserinnen, eine besinnliche Adventszeit, gesegnete Festtage und ein „gesundes“ Neues Jahr.
Florence Neugebauer, Muttenz