Am 29. Mai hat die Täuferbewegung in Zürich mit einem öffentlichen Begegnungstag ihrem 500-Jahr-Jubiläum gedacht. Einer der Höhepunkte war der Abschlussgottesdienst mit ökumenischen Gästen im Grossmünster. Die Erwartungen an diesen Moment waren vielfältig – und sie wurden erfüllt, wie Jürg Bräker, Generalsekretär der Konferenz der Mennoniten der Schweiz in seinem Rückblick festhält.
Viele waren nach Zürich gekommen, um am 29. Mai am öffentlichen Begegnungstag zum Gedenken an 500 Jahre Täuferbewegung. Sehr viele. Und vielfältig waren die Erwartungen an die Gedenkfeier, die den Abschluss dieses bunten Jubiläumsanlass bildete, der von der Mennonitischen Weltkonferenz (MWK) organisiert worden war. Da war die Erwartung, dass wir der Treue unserer täuferischen Vorfahren gedenken würden, die einen hohen Preis dafür bezahlt hatten, dass sie festhielten an tiefsten Überzeugungen, am Weg, auf den sie sich durch Jesus Christus gerufen wussten. Einen sehr hohen Preis. Da war die Erwartung, dass es starke Impulse geben würde zur Erneuerung im Glauben an Jesus – schliesslich gehörte der Gottesdienst ja auch zur Reihe «Renewal 2028», mit der die MWK schon seit 2017 jährlich der 500 Jahre Täuferbewegung gedenkt. Viele freuten sich besonders darauf, mit Geschwistern aus aller Welt die Vielfalt zu feiern, in der heute die Nachfolge Jesu auf allen Kontinenten in täuferischen Gemeinden gelebt wird. Auch die Schritte auf dem Weg der Versöhnung, die wir in den vergangenen Jahrzehnten gegangen waren, sollten gefeiert werden – Versöhnung mit jenen Kirchen, mit denen es im Laufe der Reformation zum Bruch gekommen war. Und natürlich: Der Mut zur Liebe, das Motto des Jubiläumsanlasses, sollte im Zentrum stehen – ein Mut, mitten in all den Kriegen und Machtkämpfen in dieser Welt nach Schritten der Heilung, des Friedens zu suchen, der Liebe auch zu denen, die einem nicht wohlgesinnt sind. Wie sollte all das in dieser Feier zusammenkommen?
Drei Stunden anstehen, um mitzufeiern
Die Erwartungen waren vielfältig – und sie wurden erfüllt. Unvergesslich war für mich schon, was sich vor dem Gottesdienst abspielte: Schon drei Stunden vor Beginn begann sich vor dem Grossmünster eine Traube von Menschen zu sammeln, die im Grossmünster mitfeiern wollten. Während auf der Open-Air-Bühne Chöre sangen, füllte sich der Zwingli-Platz vor der Kirche immer mehr. Kurz vor der Türöffnung war er randvoll mit Leuten, die hofften, irgendwo in einer Ecke noch einen Platz zu bekommen. Man staunte in Zürich.
Das Besondere der Feier liess dann bereits das erste Lied erahnen: «Grosser Gott, wir loben dich». Ein leiser, feierlicher Anfang begleitete die Einziehenden, schwoll an, bis der Gesang voller Kraft die ganze Kirche erfüllte. Wir – alle zusammen – loben dich, Gott, der seine ganze Kirche, seine ganze Welt von allem Anfang an trägt und baut.
Störenfriede aus der Vergangenheit
Und dann wirbelten plötzlich Pamphlete durch den Raum und unsere täuferischen Vorfahren platzten mitten in die geordnete Liturgie von Grussworten und Gedenken ein. Sie störten wie seinerzeit den Gottesdienst mit Forderungen nach einer Kirche allein derer, die ihren Glauben konsequent leben. Es war ein Moment, der deutlich machte, dass die Versöhnung zwischen den Kirchen das Zeugnis der Vorfahren ehren kann und nicht aufgegeben werden muss, wofür sie damals einstanden. Gleichzeitig ist es wichtig anzuerkennen, dass auch die täuferische Bewegung problematische Züge und Konsequenzen hatte. Schon in der Versöhnungsfeier von 2004 haben sich deshalb Reformierte und Täufer beiderseits zu je ihrer Schuld bekannt und Vergebung zugesprochen. Diese Schritte griff die inszenierte Störung in der Kirche eindrücklich auf.
Mutig die Feinde lieben
Die Predigt von César García, Generalsekretär der MWK, griff eine biblische Erzählung aus 2. Könige auf, die deutlich machte, was Mut zur Liebe bedeuten kann: Eine junge Sklavin, die wohl Grauenhaftes erlitten hatte von denen, die ihr Volk, ihre Familie zerstört hatten, führt den Feldherrn ebenjener Armee, die ihr Leben zerstört hatte, Naaman, auf Wege zur Heilung. García griff den Spruch Zwinglis auf «Tut um Gottes Willen etwas Tapferes (something courageous)», mit dem Zwingli zum bewaffneten Kampf gegen die Feinde der Reformation aufgerufen hatte, und setzte ihm den Mut (courage) zur Liebe zu den Feinden entgegen, die mehr Mut erfordert als der Kampf gegen die Feinde. Eine klare Botschaft mit der Einladung, in Jesu Nachfolge unseren Glauben zu erneuern im Mut zur Liebe.
Würdigung der Versöhnungsschritte
Mit den ökumenischen Gästen wurden anschliessend die verschiedenen Schritte auf dem Weg zur Versöhnung gewürdigt – und neue gegangen. Kardinal Kurt Koch verlas eine Botschaft von Papst Leo XIV, in der sich dieser zur Notwendigkeit eines theologischen und pastoralen Dialogs zwischen Mennoniten und der Katholischen Kirche bekannte: «Das von Ihnen für die Gedenkveranstaltung gewählte Motto »Mut zur Liebe« erinnert uns vor allem daran, dass es für Katholiken und Mennoniten notwendig ist, jede Anstrengung zu unternehmen, um das Gebot der Liebe ebenso zu leben wie den Aufruf zur Einheit der Christen und den Auftrag, den anderen zu dienen. Gleichermaßen verweist es darauf, dass Aufrichtigkeit und Wohlwollen notwendig sind, wenn wir über unsere gemeinsame Geschichte nachdenken, die schmerzliche Wunden und Narrative umfasst, die die Beziehung und gegenseitige Wahrnehmung von Katholiken und Mennoniten bis auf den heutigen Tag belasten. Wie wichtig ist daher die Reinigung des Gedächtnisses und eine gemeinsame Relektüre der Geschichte, die es uns ermöglicht, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und durch den »Mut zur Liebe« eine neue Zukunft aufzubauen.» Mit dieser Botschaft wurde ein neuer Weg zu Schritten der Versöhnung geöffnet, eine Tür in die Zukunft.
Die Schritte der Versöhnung mit der Lutherischen Kirche wurden mit einer Erneuerung der gegenseitigen Verpflichtungen gewürdigt, die im Rahmen der Versöhnungsfeier in Stuttgart 2012 ausgesprochen worden waren. Larry Miller, ehemaliger Generalsekretär der MWK, und Anne Burghardt, Generalsekretärin des Lutherischen Weltbunds, salbten sich gegenseitig mit dem Zeichen des Kreuzes. Ein Blick zurück auf geschehene Versöhnung, in der wir zusammen weiter gehen.
Zahlreich sind die Schritte, die Täufer mit den Reformierten gegangen sind. Besonders für uns in der Schweiz sind diese Schritte sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene von grosser Bedeutung. Zudem bildeten sie eine wichtige Grundlage für die Gespräche der MWK mit der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK). Diese endeten mit der gemeinsamen Erklärung «Die Ganzheit unserer Familie wieder herstellen: Auf der Suche nach einem gemeinsamen Zeugnis». Während John D. Roth und Nelson Kraybill von der MWK zusammen mit Hanns Lessing, Exekutiv-Sekretär für Gemeinschaft und Theologie der WGRK, Teile der Erklärung verlasen, stiegen César García und Setri Nyomi, der Generalsekretär WGRK, gemeinsam die Treppe zum Chor hoch – vielleicht auch symbolisch zu den versammelten Nationen, repräsentiert durch die Chöre aus Indonesien, Kenya, Paraguay, USA und der Schweiz – wo sie einander, für alle sichtbar, gegenseitig die Füsse wuschen. Ein Zeichen dafür, dass wir als Kirchen gemeinsam danach suchen wollen, Zeugen des Evangeliums zu sein. Ein stiller, intimer Moment, gefüllt von all den Schritten, die schon gegangen wurden auf dem Weg hin zur Versöhnung.
«We want justice, we want peace!»
Viele Höhepunkte habe ich bisher genannt, vieles von historischem Gewicht und tief berührend. Am meisten bewegt hat mich ein Moment gegen Ende des Gottesdienstes. «We want justice, we want peace!» sangen die fünf Ensembles gemeinsam. Jugendliche aus allen Erdteilen standen zusammen, nahmen diesen Impuls aus der Schweiz auf, ein gemeinsames Bekenntnis, voller Kraft und Hoffnung. Dennis Thielmann hat das Lied von Songs of Peace, das schon einige Jahre in der Ausstellung auf Schloss Trachselwald erklingt, völlig neu bearbeitet. Und dann, wenige Momente später, sangen wir gemeinsam die Grosse Doxologie. Da grüssten sich zwei Stimmen aus der täuferischen Tradition, eine, die uns schon seit Jahrzehnten verbindet, und eine, die Hoffnung macht auf eine Zukunft, in der jene, die aufstehen für die Freiheit von Sklaven, Gebrochene und Gebundene, die Früchte ihrer Beharrlichkeit sehen werden.
Ein bedeutungsvolles Ganzes aus vielen Stimmen
Die Erwartungen an den Gottesdienst waren vielfältig – genauso wie die vielen Stimmen, die im Gottesdienst auf sie antworteten. Wir wurden mit so Vielem beschenkt: starke Gesten der Vergebung und Versöhnung, Musik und Gesang, Worte, die über Jahre gereift waren und Menschen im Laufe der Gespräche zusammengeführt haben, Aufbrüche in ungeahnte Weiten der Zukunft, bewegt vom Kommen des Reiches Gottes, und Dankbarkeit für die Glaubenstreue der Vorfahren und der Schmerz über das Unrecht der jahrhundertelangen Verfolgung von Glaubensgeschwistern.
Und es ist ein grosses Geschenk, wie all diese Stimmen zueinander fanden zu einem grossen Fest. Darüber kann ich nur staunen. Es entstand nicht nach einem vorgefertigten Plan, auch wenn der Gottesdienst insgesamt der klassischen Liturgie folgte. Es entwickelte sich aus den Gaben der Gemeinschaft des Leibes Christi, an dem wir Täufer ein Teil sind. Viele haben ihre Ideen und Anliegen eingebracht, und manchmal brauchte es auch da etwas Beharrlichkeit. Dass aus den vielen Stimmen am Ende ein so bedeutungsvolles Ganzes entstanden ist, ist für mich Hoffnung für diese Welt. Wenn die Kirchen sich mit all ihren unterschiedlichen Überzeugungen und Gaben zum einen Leib Christi zusammenfügen lassen, wenn die Narben von erlittenen Verletzungen zu Zeugen von Versöhnung werden, wenn Täufer und Reformierte, zusammen mit weiteren Glaubensgemeinschaften, in einer solchen Freude miteinander feiern können, still und kräftig, überraschend und trauernd und neue Türen öffnend – dann habe ich Hoffnung, dass es tatsächlich da ist, oft verborgen und doch leuchtend und wirkend: das Reich Gottes in dieser Welt mitten unter uns!
Text:
Jürg Bräker, Generalsekretär der Konferenz der Mennoniten der Schweiz