2025 blicken die Mennoniten nicht nur auf 500 Jahre Täuferbewegung zurück, sondern auch auf 100 Jahre Mennonitische Weltkonferenz. Dieses Jubiläum wurde am 25. Mai im Rahmen von Treffen verschiedener Gremien der Weltkonferenz in Schönblick gefeiert. Eindrücke von Jürg Bräker, Generalsekretär der Konferenz der Mennoniten der Schweiz und Mitglied des Exekutivkomitees der Mennonitischen Weltkonferenz.
Wenn wir Mennoniten 2025 gemeinsam auf 500 Jahre Täuferbewegung zurückblicken, dann hat das viel damit zu tun, dass unsere Bewegung seit 1925 regelmässig zu Treffen zusammenfindet. Damals – also genau vor 100 Jahren – fand in Basel die erste mennonitische Weltversammlung statt. Aus diesem und den vielen Treffen, die folgten, ist eine Dachorganisation gewachsen, in der gemeinsame Überzeugungen benannt und gelebt werden, in der Kommissionen und Netzwerke daran arbeiten, was es konkret heisst, in dieser Welt als Koinonia Christi zu leben: die Mennonitische Weltkonferenz (MWK). Die beständige Suche danach, was die täuferische Identität (oder Identitäten?) ausmacht, ist nicht Selbstzweck. Sie zielt darauf, herauszufinden, was es heisst, gemeinsam Kirche zu sein in all den unterschiedlichen kulturellen, politischen und sozialen Kontexten dieser Welt. Weltkonferenz steht nicht nur für die globale Ausdehnung unserer Bewegung, sondern auch dafür, dass wir eine Gemeinschaft in dieser und für diese Welt sind. Diese Dimension ist immer auch mitgemeint in der Tagline, die sich die MWK 2024 gegeben hat: Following Jesus – Living out unity – Building peace. (Jesus nachfolgen – Einheit ausleben – Frieden bauen)
Unübersehbare Parallelen zwischen 1925 und 2025
Das 100-Jahr-Jubiläum der MWK wurde am Treffen des General Councils der MWK im Mai im deutschen Schönblick gefeiert. Das Gedenken an die erste Versammlung in Basel ruft in Erinnerung, dass die MWK von Anfang an einen Schwerpunkt in der Friedensarbeit hatte. Sie brachte damals Gemeinschaften aus Ländern zusammen, deren Angehörige sich im 1. Weltkrieg noch als Feinde gegenüberstanden. Im Europa der Nachkriegszeit war dies ein politisches Statement: Es braucht auch eine Neubesinnung, wie sich die Kirchen zur Gemeinschaft ihrer Nationen stellten und wie der Leib Christi gelebt wird, dessen Verbindungen die Grenzen, die der Nationalismus zu ziehen sucht, beständig transzendieren muss. Wie ähnlich diese Zeiten den unseren waren und wie aktuell die entsprechenden Fragestellungen, stellte im Rahmen der Feierlichkeiten in Schönblick der Historiker John D. Roth heraus: Es war eine Zeit, der eine Pandemie vorausgegangen war, eine Zeit von politischen Polarisierungen und wieder erstarkendem Nationalismus.
Die erste Weltversammlung hatte auch zum Ziel, Nothilfe für die Ukraine zu organisieren, die unter dem Stalinismus ausgehungert wurde – auch hier sind die Parallelen unübersehbar. So war es ein starkes Symbol, dass in der Versammlung des General Councils in Schönblick die Mennoniten-Brüdergemeinden der Ukraine als assoziiertes Mitglied aufgenommen wurden. Roman Rakhuba, Präsident der Vereinigung, konnte zwar an der Versammlung in Deutschland teilnehmen, doch lässt sich das Grauen nur schwer vermitteln, dem die Gemeinden in der Ukraine nun seit über drei Jahren ausgesetzt sind. So war das stellvertretende Gebet für ihn und alle, die sich in seiner Heimat gegen die Not des Krieges stellen, ein wichtiger und berührender Moment.
Und doch ist die Ukraine nur einer der Orte, die unter Krieg leiden. Ebenso erzählte Amos Chin von der Situation in Myanmar, wo die Regierung die Opfer des Erdbebens bombardiert, statt Hilfe zu leisten. Die schwierige Situation der Demokratischen Republik Kongo wurde insofern ersichtlich, als kaum ein Vertreter ein Visum zur Einreise erhielt. Auch dies erinnerte an 1925, als die Teilnehmenden der Weltversammlung sich zum Badischen Bahnhof begaben, um die Delegierten aus der Sowjetunion auf deutschem Boden zu treffen. Sie hatten kein Visum für die Schweiz erhalten.
Dass die Verbundenheit in Nothilfe und Friedensarbeit in der MWK nicht nur symbolisch gelebt wird, zeigt auch die Grösse der entsprechenden thematischen Netzwerke der MWK: das Global Anabaptist Peace Network, das mennonitische Friedensorganisationen vereint, das Global Anabaptist Service Network, das mennonitische Hilfsorganisationen vereint, und das Global Mission Fellowship, das die mennonitischen Missionsorganisationen vereint. Sie alle waren in Schönblick dabei und waren Teil der Feier – und die Zahl der Teilnehmenden aus den Netzwerken überstieg die Zahl der Delegierten im General Council bei weitem.
Einheit als gegebene Wirklichkeit
In seiner Predigt zum Jubiläum stellte Generalsekretär César García Psalm 133 in den Mittelpunkt und betonte, dass das Leben in Einheit eine Gabe Gottes ist, eine fassbare Wirklichkeit wie Öl und Duft, die anziehend wirkt. Er setzte so die Einheit nicht als Ziel, sondern als gegebene Wirklichkeit in ihrer Schönheit ins Zentrum.
Der Neutestamentler Tom Yoder Neufeld führte diese in Christus gegebene Einheit später in der Woche in einem tiefgründigen Vortrag aus. Er betonte, dass die Einheit im Leib Christi gerade in der Nachfolge gelebt wird, die bereit ist, das Kreuz auf sich zu nehmen. Und das Leiden des Kreuzes beinhaltet auch die Einheit mit denen, mit denen wir nicht einig sind, die unter Nachfolge Christi etwas anderes verstehen, als es die eigene Gemeindekultur ausprägt. Das Kreuz anzunehmen bedeutet, auch sie anzunehmen und auch die entsprechenden Differenzen. Im – nicht immer gelingenden – Ringen um Konsens, das die Arbeit des General Councils prägt, wird genau dies gelebt, wenn wir mit der Schwierigkeit konfrontiert sind, dass wir unterschiedliche Sprachen sprechen und einander zwar zuhören und doch nur teilweise verstehen – trotz der hervorragenden Arbeit der Übersetzer:innen.
Raum für persönliche Geschichten
Die MWK ist aber nicht nur eine grosse, weltumfassende Organisation. Sie ist ein Ort, wo ganz persönliche Geschichten Raum erhalten und in dieses Geflecht der Gemeinschaften eingebunden werden; in ihnen wird letztlich sichtbar, was es heisst, eine globale Gemeinschaft (communion) zu sein. Das Hören von einigen dieser Geschichten eröffnete einen Blick in die gelebte Gegenwart der MWK.
Der ehemalige Generalsekretär Larry Miller sprach in sehr persönlicher Weise von den Folgen, die sein Entscheid hatte, statt einer akademischen Laufbahn den Dienst in der MWK anzutreten. «Es hat mein Leben gerettet», sagte er. Die MWK war für ihn ein Ort der Begegnungen und Transformationen. Sein Dienst ermöglichte ihm, das Bewusstsein in der MWK zu fördern, dass wir eine wirklich globale Gemeinschaft sind, in der die Stimmen der Kirchen des globalen Südens nicht nur gehört, sondern als impulsgebend aufgenommen werden. Eine Organisation, die lebt, um die Wunden der Trennungen zu heilen – in- und ausserhalb der Täuferbewegung.
Gemeinschaft der MWK als Inspiration
Als Leiter einer Kirche mitten in den Herausforderungen eines von Bürgerkrieg zerrissenen Landes erzählte Amos Chin davon, wie wichtig es für ihn ist, in der Gemeinschaft der MWK Menschen zu finden, die den Weg der Gewaltüberwindung durch Gewaltlosigkeit konsequent gehen. Sie sind ihm Inspiration, auch in seiner eigenen Kirche solche Wege zu suchen – besonders mit den Jugendlichen in der Frage, wie sie in den Widerstand zur Militärdiktatur treten können, ohne sich in den bewaffneten Widerstand der rivalisierenden Gruppen hineinziehen zu lassen. Die MWK verankert für ihn konkret das Friedenszeugnis mit Beispielen von vielen Kirchen, die in gewaltsamen Konflikten nach Wegen suchen, die sich der Gewalt enthalten.
Valentina Kunze, Young Anabaptist Delegierte aus Uruguay, sprach darüber, wie die Lerngemeinschaft der MWK gerade in ihrer Multikulturalität sie ganz neue Aspekte von Jesus entdecken liess und sie so ein viel reicheres Bild von dem Jesus gewann, dem wir alle gemeinsam nachzufolgen suchen.
Täuferbewegung als kleiner Teil eines grossen Ganzen
Timo Doetsch, Delegierter der Arbeitsgemeinschaft der Mennonitischen Brüdergemeinden in Deutschland, sprach von der Herausforderung, sich von denen dienen zu lassen, die man nicht unbedingt mag. Er rückte damit die Diakonie als einen wichtigen Aspekt der MWK ins Licht: nicht nur die eigenen Gaben zur Verfügung zu stellen, sondern vor allem die Demut zu haben, die Gaben der anderen zu empfangen, sich berühren zu lassen – auch von denen, mit denen man sich nicht leichttut. Er öffnete ebenso den Blick über die MWK hinaus auf den ökumenischen Leib Christi, mit dem er sich durch die MWK verbunden erlebt: Die konkret erlebte Dienstgemeinschaft gibt eine Ahnung von der viel grösseren Dienstgemeinschaft der weltweiten Kirche – ein Leib, an dem wir als Täufer vielleicht nur der kleine Zeh sind, aber ihm ebenso mit unseren Gaben dienen. Viele spätere Redner:innen in der Woche griffen dieses Bild vom kleinen Zeh oder auch nur Zehennagel auf. Die Versammlung in Schönblick hatte mit den vielen ökumenischen Gästen aus anderen Weltkirchenverbänden eine ausgesprochen ökumenische Dimension.
Mutig Gaben zur Verfügung stellen
Die frühere Vizepräsidentin Rebecca Osiro aus Kenia verband all diese Aspekte mit ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie erzählte vom Mut, den sie in der MWK lernte – den Mut zu dienen. Sie war die erste Frau, die in der mennonitischen Kirche in Kenia zur Pastorin ordiniert wurde. Sie hatte diese Ordination nicht gesucht, sah aber, wie wichtig sie war, damit Frauen mit der Autorität ihrer Gaben erkannt und gesehen wurden. Als Mitglied der Kommission Glaube und Leben der MWK und der Gruppe des Trialogs mit römisch-katholischer und lutherischer Kirche lernte sie den Mut, die Gaben, die sie durch ihre Bildung und Erfahrung erhalten hatte, zur Verfügung zu stellen, zu vertrauen, dass wertvoll und wichtig war, was sie beitragen konnte. Sie stellte damit einen wichtigen Aspekt ins Licht: Wenn wir die MWK als Gemeinschaft verstehen, in der wir einander dienen, so meint der Mut zu dienen nicht primär Unterordnung in Selbstzurücknahme, sondern das Zur-Verfügung-Stellen dessen, was wir durch andere als Gaben unseres Lebens erhalten haben.
Schweiz als Ursprungsort
Der Blick in die Zukunft der MWK schliesslich hatte in dieser Feier seinen Ort in der Form von Gebeten und Segen – von ehemaligen Präsidentinnen und Präsidenten und weiteren Leiter:innen der Weltgemeinschaft. Dass alle Betenden in ihrer Muttersprache sprachen, brachte wohl auch den Wunsch zum Ausdruck, dass wir uns im Geist Gottes in gegenseitigem Verstehen finden, das Grenzen überwindet, die uns Sprachen und Kulturen setzen. Aber nicht im Ausblenden des Reichtums dieser Sprachen, sondern im Bewusstsein, dass sie Teil der Vielfalt bleiben in der Einheit, in die uns Christus stellt. So betete auch Markus Rediger, ehemaliges Mitglied des Exekutivkomitees, sein Gebet in seiner Mundart. Die Mennonitengemeinden der Schweiz – als einer der Ursprungsorte der heute weltweiten Bewegung – bleiben ein gehörter und tragender Teil der Weltkonferenz. Auch wenn wir ein sehr kleines Glied sind, haben wir mit unseren Eigenheiten viel beizutragen und zu empfangen.
Text:
Jürg Bräker